„100% Elektrostimulation des Muskels wollen Sie nicht“ – Im Gespräch mit Prof. Dr. Wirth (Teil 2)

Prof. Dr. Wirth lehrt an der Fachhochschule Wiener Neustadt Training & Sport.

Darüber hinaus hat er sich in der Forschung intensiv mit Krafttraining auseinandergesetzt. Eine Übersicht seiner Publikationen und Forschungsaktivitäten findest Du auf der Seite der Fachhochschule Wiener Neustadt.

Im zweiten Teil unseres Gespräches geht es um Übertraining im Kraft- und Ausdauerbereich, den Sinn bzw. Unsinn von Messungen, neuen Konzepten auf dem Fitnessmarkt und Isolationsübungen sowie Tipps, wie Du die richtige Technik bei Kraftübungen lernen kannst.

Hier gelangst Du zum ersten Teil unseres Gesprächs.

Sehen Sie eine Gefahr darin, ins Übertraining zu geraten?

Prof. Dr. Wirth:

Meiner Meinung nach ist Übertraining in den letzten Jahren zu einem regelrechten Modewort geworden. Heute ist ja schon jeder übertrainiert, bevor er überhaupt angefangen hat, sich zu belasten.

Das Einzige, was ich aus meinem Cardio-Bereich kenne, ist, dass wenn eine korrekt gemessene Herzratenvariabilität nach unten fällt, das manchmal mit einem Erschöpfungszustand korreliert. Beim Kraftsport habe ich das tatsächlich immer nur als dieses große „böse“ Wort gehört, bin da also ganz bei Ihnen.

Prof. Dr. Wirth:

Übertraining ist nur dann ein Problem, wenn es schleichend kommt. Beim Krafttraining ist dies allerdings kaum möglich, weil Sie ziemlich schnell merken, wenn Sie plötzlich weniger Gewicht oder weniger Wiederholungen schaffen als beim vorherigen Training. Da kann es erst mal auch nur ein schlechter Tag sein. Wenn Sie dann aber beim nächsten Mal wieder weniger schaffen, merken Sie schnell, dass da was nicht stimmen kann.

Das Übertraining ist im Ausdauerbereich gefährlicher. Dort merkt man die Veränderungen häufig nicht so schnell. Da braucht man mal ein paar Minuten länger für eine Strecke, macht sicher aber darüber keine großen Gedanken und versucht vielleicht das etwas langsamere Laufen oder Radfahren durch ein paar mehr Kilometer auszugleichen. Und dann kann es wirklich passieren, dass man sukzessive in ein Übertraining rutscht mit hormonellen Veränderungen etc.

Bei stärker intensitätsorientierten Belastungen wie dem Krafttraining lassen sich solche (zunächst einmal) Ermüdungserscheinungen kaum umschiffen.

Im Leistungssport wie z.B. Fußball wird mittlerweile viel über Belastungssteuerung gesprochen. Es wird argumentiert, dass man sehr aufpassen muss, dass man nicht in ein Übertraining gerät und das erst zu spät merkt. Wie sehen sie das?

Prof. Dr. Wirth:

Prinzipiell schon, allerdings beinhaltet das Fußballspiel zahlreiche intensive Belastungsmomente (Sprints, Sprünge). Da sollte ein Spieler recht schnell merken, wenn die Beine müde sind. Noch ein paar Worte zum Thema Messung hierbei ergeben sich zahlreiche Probleme:

  • Für die meisten Parameter, die erhoben werden, besteht das Problem, dass diese auch von Faktoren beeinflusst werden, die nichts mit der aktuellen Belastungssituation zu tun haben. Daraus ergeben sich Interpretationsprobleme.
  • Es fehlen meist für die Früherkennung eines Übertrainings wissenschaftlich abgesicherte Grenzwerte, an denen man sich im Sport orientieren könnte.
  • Vergessen wird häufig, dass es unter den diagnostischen Parametern einige gibt, die sich als Folge des Trainingsreizes verändern und Signalgeber für Adaptationsprozesse sind. Zum Beispiel ist ein Muskelkater, der mit einem Anstieg von Creatinkinasewerten begleitet wird, nichts Schlimmes, sondern zunächst einmal ein Zeichen dafür, dass man in seinem Muskel eine Anpassung provoziert.
  • Es gibt keinen Parameter, der allumfassend über den Ermüdungszustand des Organismus Auskunft gibt.
  • Viele Parameter, die hilfreich wären, sind für eine Früherkennung eines Übertrainings nicht sensitiv genug. D.h. wenn sich die Werte verändert haben, ist das Kind bereits in den Brunnen gefallen.

Ein weiterer Parameter: Generell wird ja häufig die Herzfrequenz im Training und im Spiel aufgezeichnet…

Nicht nur hier, jetzt ja auch im Laienbereich. Ich habe ein Video auf YouTube, in dem ich 4 Systeme miteinander verglichen habe, die ich 1 Monat getragen habe und wo ich anschließend alle Daten ausgewertet habe. Das Ergebnis: Die Daten haben teilweise nicht mal korreliert.

Prof. Dr. Wirth:

Ja, das kann ich mir vorstellen. Über die Messmethodik müssen wir uns gar nicht unterhalten, da machen wir gleich das nächste große Fass auf.

Sie bekommen auf jeden Fall bei einer Fußballmannschaft eine Unmenge an Daten. Wer wertet die denn aus?

Ich hoffe immer jemand wie ich, der vom Fußballverein angestellt wird, der Zahlen liebt und Statistiker und Ökometriker ist.

Prof. Dr. Wirth:

Solche Leute gibt es. Aber man braucht den physiologischen Background, um die Datenflut überhaupt vernünftig interpretieren zu können, soweit das überhaupt möglich ist.

Genau! Meine Frage ist z.B., ob jetzt die Herzratenvariabilität im Tiefschlaf, im Durchschnitt oder der maximale Puls wichtig ist. Solche Dinge weiß ich ja gar nicht. Ich lese dazu immer nur verschiedene Behauptungen. Das eine System behauptet das, das andere System wieder was anderes. Ist das eine so unausgereifte Wissenschaft oder eine unausgereifte Technologie?

Prof. Dr. Wirth:

Unausgereift ist da gar nichts. Sie haben zum einen die Physiologie und zum anderen den Markt, der Ihnen Uhren verkaufen will.

Die Physiologie sagt ziemlich klar: Die Herzratenvariabilität ist ein Risiko, wenn sie in Ruhe abnimmt. Das hat man bei der Behandlung von Koronarpatienten erkannt. Sie müssen dafür im Schlaf messen, da die Herzratenvariabilität über den Tag gesehen so variabel ist, dass Sie damit nicht viel anfangen können. Und dann müssen Veränderungen über Tage hinweg sichtbar sein, dass man hieraus wirklich Schlüsse ziehen kann.

Irgendwann am Tag die Herzfrequenzvariabilität messen und daraus dann für das anstehende Training Belastungsbereiche anzuleiten ist ein mehr als fragwürdiges Vorgehen. Um Herzfrequenzmesser zu verkaufen muss man natürlich behaupten, dass ohne diese Geräte ein vernünftiges Ausdauertraining bzw. eine Belastungssteuerung nicht möglich wäre.

Zudem muss man sich natürlich auch turnusmäßig etwas Neues ausdenken, um auch die neueste Serie an Herzfrequenzmessern an den Mann zu bringen. Schaut man sich an, welche Ausdauerleistungen erbracht wurden, bevor der Fitnessmarkt bzw. der Leistungssport mit diesen Geräten überschwemmt wurde, muss man die Frage stellen, wer dieses Equipment überhaupt benötigt? Eine Anwendung, um eine Überlastung beim Ausdauertraining zu vermeiden, leuchtet mir beim Hypertoniker ein.

Gesamtgesellschaftlich ist das heutige Hauptproblem insbesondere in den Industrieländern allerdings die fehlende Belastung, nicht die Überlastung. In diesem Zusammenhang habe ich auch noch nie gehört, dass es vor der Zeit der Herzfrequenzmesser zum Massensterben unter Freizeitjoggern gekommen wäre.

Selbst ein belegbarer Rückgang von Überlastungsschäden, seit es die Herzfrequenzmesser auf dem Markt gibt, fehlt. Generell wird den Leuten heute eingeredet, dass sie keine vernünftige Eigenwahrnehmung hätten bzw. sich auf diese nicht verlassen könnten. Dies kombiniert man mit dem Schüren von Angst vor vermeintlichen Überlastungsschäden und schon hat man den Aufhänger für eine hervorragende Werbekampagne.

Wenn man Laufen geht werden einem die Beine recht schnell oder manchmal auch erst nach ein paar gelaufenen Kilometern ´sagen´, ob ´da was geht oder nicht´. Dafür braucht man keinen Herzfrequenzmesser!

Genau! Und es gibt die Tage, da geht der Puls in die Höhe, obwohl ich mich gar nicht richtig anstrenge. An diesen Tagen bin ich dann platt.

Prof. Dr. Wirth:

Und es gibt Tage, da läuft es super und trotzdem ist die Herzfrequenz etwas höher als normal, weil man vielleicht etwas schneller läuft. Und wo ist jetzt das Problem?

Mein persönlicher Eindruck ist auch, dass wenn ich viel im Kopf habe und während dem Laufen nachdenke, das ein verzerrender Faktor ist.

Prof. Dr. Wirth:

Das sowieso! Grundsätzlich unterliegt die Herzfrequenz Tagesschwankungen, die durch unterschiedliche Faktoren wie z.B. auch der Psyche beeinflusst werden. Wenn ich Ihnen z.B. sage, dass sie heute beim Laufen darauf achten sollen, dass Ihr Herz 5 Schläge mehr in der Minute haben soll, werden sie das bei einem längeren Lauf enorm spüren. Das macht also im Sinne der Belastung und Beanspruchung einen großen Unterschied.

Wenn man dem nun gegenüber hält, was man an Tagesschwankungen hat, weil man sich über irgendwas aufregt, schlecht geschlafen hat etc., kann die hieraus entstehende Beeinflussung der Herzfrequenz schnell in einem vergleichbaren Bereich liegen, hat dann aber gar nichts mit Ihrer Laufleistung zu tun.

Also ich denke tatsächlich, dass man einfach viel mehr Fokus auf die Eigenwahrnehmung legen sollte. In der Regel merkt man viel früher, ob irgendwas im Argen liegt, als das ein Tracker kann.

Nun zum Thema Effizienz, dass ja auch Ihr Thema ist, wie ich schon herausgehört habe. Hier stimme ich zu, dass man da wirklich genau hinschauen muss: Es wird da schon eine Menge Unsinn verbreitet. Die Kernaussagen, die insbesondere aus dem Bereich des Fitnessmarkts verbreitet werden, sind meistens:

  • Du brauchst Dich nicht anstrengen,
  • Du muss kaum Zeit investieren,
  • es gibt eine Trainingsform, die für alles gut ist.

Hinzu kommt, dass natürlich alles, was da beworben wird, funktionell und gesund ist und natürlich auch nachhaltig wirkt. Im Rahmen des Leistungssports wird dann gerne noch das Wort „spezifisch“ verwendet. Wobei man natürlich erwähnen muss, dass das dieselben Marketingphrasen sind, die auch in anderen Bereich zu Anwendung kommen.

Der Fitnessmarkt sagt einem, dass man auf einem wackligen Untergrund stehen, mit einer Aquanudel oder irgendwelchen Bändern herumspielen …

Sie müssen mit der Kettlebell Schwungkräfte reinbringen. Sie müssen, sie müssen, sie müssen..

Prof. Dr. Wirth:

Exakt! Und das Erschreckende ist, dass man immer mehr feststellen muss, dass insbesondere in den letzten 20 Jahren vieles von diesem Unsinn im Leistungssport ankommt.

Zum Beispiel wundert es mich immer wieder: Auf der einen Seite liest und hört man, dass man bei Krafttrainingsübungen wie z.B. der Kniebeuge unbedingt auf eine saubere Technik achten soll und wie gefährlich eine solche Übung werden kann, wenn man mit hohen Belastungsintensitäten arbeitet. Es wird demnach hervorgehoben, dass man technisch sauber arbeiten und die Übungsausführung jederzeit kontrolliert erfolgen muss.

Jetzt stellt man diese Personen auf etwas Vibrierendes, wo sie gar nichts mehr kontrollieren können und das soll jetzt super sein!? Kann mir das mal einer erklären? Natürlich kann man z.B. das Gewicht so sehr reduzieren, dass das Risiko deutlich sinkt. Nur was ist dann mit dem Trainingsreiz?

Also auch schwachsinnig auf einem Kissen Wadenheben zu machen?

Prof. Dr. Wirth:

Was sollte das bringen? Das Einzige, was sie dann machen, ist ein Koordinationstraining. Natürlich mag es auch eine Wadenmuskulatur geben, die so schwach ausgeprägt ist, dass diese kurzfristig einen Trainingsreiz erfährt. Die Betonung liegt hier aber ganz klar auf schwach und kurzfristig.

Und das Argument für diese Wackelbretter etc., dass tieferliegende Muskelfasern erreicht werden, die man sonst nicht erreicht? Das ist ja immer das Marketing-Argument gewesen.

Prof. Dr. Wirth:

Das ist ein komplettes Märchen!

Ich habe all das ausprobiert und es dann auch verworfen, weil ich keinen Unterschied festgestellt habe. Ähnlich wie EMS-Training, wo man diese nasse Jacke angezogen bekommt. Hier ist ja das Argument, dass man durch Elektrostimulation viel mehr Muskelfasern erreicht.

Prof. Dr. Wirth:

Prinzipiell ist das richtig. Nur leider bringt die Elektrostimulation auch ein paar Probleme mit sich. Gehen wir dafür aber erst mal weg von dieser Jacke, wo sie ja die Übungen immer noch machen müssen und nur ganz geringe Stromstärken appliziert werden.

Mit einer Elektrostimulation ist es theoretisch es möglich, 100% der Fasern eines Muskels zu aktivieren. Aber ich verspreche Ihnen, das wollen Sie nicht.

Ja, das hört sich schrecklich an. Also ein Muskel mit Elektrik so zu belasten, wie ich das in einem guten Krafttrainingssatz mache, das will ich auch gar nicht.

Prof. Dr. Wirth:

Bei einer Studie haben wir einmal die Wadenmuskulatur u.a. mehrfach über eine Sekunde mit einer Frequenz von 100Hz stimuliert. Vorher wurde getestet, welche Stromstärke das Individuum verkraftet. Ich sage Ihnen, 100Hz über eine Sekunde, das ist ein Gemetzel, das wollen Sie nicht erleben. Wenn Sie schon einmal einen Krampf im Oberschenkel hatten, dann können Sie sich ungefähr vorstellen, was bei der Elektrostimulation auf Sie wartet.

Wir haben zusätzlich noch das Problem, dass ich Ihnen bei komplexen Bewegungen keine Elektroden anheften kann, weil Sie dann irgendeine Bewegung machen, aber keine technisch saubere.

Dann haben wir grundsätzlich das Problem, dass wir Organe haben, die stehen da gar nicht drauf. Wie wollen Sie z.B. im Schultergürtelbereich richtig Strom verabreichen? Ich glaube, der Herzmuskel findet das nicht so lustig.

Und wie wollen Sie an die tieferliegende Muskulatur kommen? Man müsste von außen Strom in einer Dosierung verabreichen, dass danach wahrscheinlich Brandflecken auf der Haut zu sehen wären. Dies natürlich immer unter der Voraussetzung, sie wollten 100% der Muskelfasern aktivieren und nicht lediglich eine kleine Massagewirkung erzeugen.

Elektrostimulation hört sich also in der Theorie super an, nur gibt es eben zig Gründe, warum das in der Praxis keine vernünftige Anwendung finden kann. EMS hat sich dann im Markt entwickelt, weil man hier wieder mit dem Thema Effizienz gelockt hat, das wollen die meisten Leute hören.

Aber da können wir auch weg vom Sport gehen, nehmen wir mal das Thema Übergewicht. Das Hauptproblem des Übergewichts sind die Ausreden. Abnehmen ist im Grunde genommen eine ganz einfache Sache: Mehr Energie verbrauchen als resorbieren. Die Energiebilanz ist der Schlüssel zum Erfolg. Das zentrale Problem dabei ist jedoch die Psyche.

Eines der einfachsten und validesten Konzepte.

Prof. Dr. Wirth:

So sieht es aus, aber das will keiner hören. Die Menschen wollen Wunderdiäten, sie wollen Erfolge mit 2x 10min die Woche etc. Die Grundidee bei all diesen Konzepten ist immer derselbe: Erzähle den Leuten das, was sie hören wollen.

Und noch einmal zu dem Thema, dass man für tieferliegende Muskulatur spezielle Übungen braucht. Das ist einfach ein komplettes Märchen. Wenn spezielle Übungen oder Elektrostimulation nötig wären, um an die tieferliegende Muskulatur zu kommen, ist meine erste Frage: Wie haben diese Muskeln dann die Evolution überstanden?

Man müsste z.B. bei allen Kraftsportlern, die diese vermeintlich wichtigen Übungen nicht durchführen, eine unterentwickelte tieferliegende Muskulatur diagnostizieren können. Dem ist aber merkwürdigerweise nicht so. Wir haben diesbezüglich vor einigen Jahren einmal ein Review publiziert, in dem die zentralen Probleme einer solchen Trainingsempfehlung dargelegt sind (DOI: 10.1007/s40279-016-0597-7 ).

Genau, diese Kraftsportler hätten ja eine massive muskuläre Asymmetrie, die innenliegende ist fast nicht da und die äußere ist überentwickelt.

Prof. Dr. Wirth:

Zu den häufig proklamierten Irrwegen gehört auch das Erlenen einer selektiven Aktivierung einzelner Muskeln. Eine selektive Aktivierung von Muskeln im Bereich des Rumpfes ist nicht funktionell, weil sämtliche Muskeln in Abhängigkeit von der motorischen Aufgabe immer fein aufeinander abgestimmt arbeiten.

Alles, was sie also isoliert machen, ist etwas, das für den Rumpf nie eine Rolle spielt. So wird ein koordinatives Muster ausgebildet, das völlig alltagsfern ist. Aber auch hier ist es wie so oft, man muss Falsches nur häufig genug behaupten, irgendwann wird es zur Wahrheit.

Ein Umstand, den auch schon der alte Goethe feststellen musste: „Man muss das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird und zwar nicht von einzelnen, sondern von der Masse, in Zeitungen und Enzyklopädien, auf Schulen und Universitäten. Überall ist der Irrtum obenauf, und es ist ihm wohl und behaglich im Gefühl der Majorität, die auf seiner Seite ist.“ (Joh. Peter Eckermann – Gespräche mit Goethe 16.12.1828)

Zum Ursprung zurück: Mit den klassischen Hantelübungen mit den kleinen Baustellen, an die man schlecht herankommt, braucht sich niemand Gedanken machen, dass irgendwas im Körper zu kurz kommt.

Wenn wir jetzt gerade wieder bei unserem Ausgangsthema sind, eine ganz konkrete Frage: Wie denken Sie über Progression, also wann gehe ich eine Gewichtsstufe höher?

Als ich angefangen habe, ernsthaft Krafttraining zu machen, habe ich mich monatelang nur mit vergleichbarer Technik beschäftigt, weil ich das Gefühl hatte, dass diese ganzen Progressionsentscheidungen von mir enorm davon abhängen, dass ich die Übungen sauber ausführe.

Wie würden Sie da vorgehen?

Prof. Dr. Wirth:

Ich war einer, der übungsabhängig durchaus auch mal ein paar abgefälschte Wiederholungen gemacht hat. Prinzipiell würde ich aber erst mal davon abraten, weil man zum einen eigentlich z.B. durch Schwung versucht, der Last auszuweichen und man zudem häufig auch in bestimmten Gelenkwinkelpositionen Kraftspitzen verursacht, die langfristig Überlastungsschäden verursachen können.

Es ist halt im Krafttraining so wie in vielen anderen Bereichen auch: Der Körper verzeiht viel, vergisst aber nichts. Irgendwann bekommt man dann die Rechnung.

Deshalb bin ich da bei Ihnen: Die korrekte Übungsausführung steht über allem! Zu Beginn des Trainings sollte man eigentlich immer jemanden haben, der sich mit den Übungen auskennt und bei Bedarf korrigierend eingreifen kann. Selbst erkennt man viele Fehler nicht.

Wenn ein eigener Trainer nicht möglich ist, sollte man wenigstens sein Smartphone nutzen und die Übungsausführung aus verschiedenen Positionen filmen.

Grundsätzlich sollte der Kopf in neutraler, gerader Position sein, ohne irgendein Verziehen, richtig?

Prof. Dr. Wirth:

Richtig. Die Gewichtheber sagen, dass man z.B. bei der Kniebeuge am besten ein Punkt an der Wand fixiert, der ein bisschen über einem ist und da bleiben die Augen die ganze Zeit drauf. Die Frage ist, bei wie vielen Kunden Sie gewährleisten können, dass Sie die Übungen richtig ausführen und sich nicht verletzen. Wahrscheinlich bei keinem.

Natürlich. Die Empfehlungen, wenn man mit hohen Lasten trainiert, sind immer wahnsinnig gefährlich. Dann versteht man auch wieder besser, warum man sicher fährt, wenn man eher Training mit niedrigeren Gewichten oder Eigenkörpergewichtstraining empfiehlt.

Prof. Dr. Wirth:

Ja, das stimmt. Prinzipiell steckt man oft in der Zwickmühle. Entweder man erzählt die Wahrheit, die häufig keiner hören möchte oder man lügt den Leuten etwas vor, da sich dies oft besser verkaufen lässt und die meisten Menschen Dinge hören wollen, die einfach, neu und modern zu sein scheinen.

Mir geht es darum, dass diejenigen, die mit mir sprechen, seriös beraten werden. Ob das denen, die mir zuhören oder meine Publikationen lesen, gefällt oder nicht, ist mir dabei ziemlich egal.

Das führt dann aber eben auch dazu, dass ich an vielen Orten Persona non grata bin. Meist ist es auch so, dass ich bei Anfragen für Vorträge erst einmal zurückfrage, ob mein Gegenüber denn weiß, was er sich mit mir einkauft, denn es kann ja durchaus auch einmal unruhig werden, wenn man Menschen nicht das erzählt, was sie hören wollen.

Allerdings muss man dann eigentlich fragen, warum jemand überhaupt zu einer Fortbildung bzw. einem Vortrag geht? Ich kann natürlich auch nicht überall die Ultima Ratio liefern, aber Ziel ist es auch, Menschen zum Nachdenken zu bringen, indem man sie auf Probleme im Trainingsprozess aufmerksam macht.

Das ist aber auch bei Prof. Dr. Frank so, ein Ernährungswissenschaftler, mit dem ich letztens ein Interview geführt habe: Der sagt Sachen, die will oft keiner hören.

Deswegen freue ich mich auch so über unser Gespräch heute, weil das Thema Krafttraining für mich in den letzten Jahren doch oft sehr widersprüchlich war. Ich habe so unterschiedliche Studien gelesen und hatte da oft den Eindruck, den Sie mir nun ja auch bestätigt haben, dass dort auch oft gelogen wird bzw. bestimmte Interessen dahinterstecken.

Ich bin immer auf der Suche nach objektivierbaren Fakten und bin erleichtert, dass sie mir in vielerlei Hinsicht gesagt haben, dass das auch seine Grenzen hat. Beispielsweise wenn man beim Training müde ist, kann man das eben manchmal nicht über Herzratenvariabilität etc. messen, sondern hat einfach einen schlechten Tag o.ä.

Prof. Dr. Wirth:

Prinzipiell ja, wobei man hier auch trennen muss: All diese Parameter haben schon ihre Berechtigung, aber da, wo sie im Bereich des Sports eingesetzt werden, sind sie oft unbrauchbar.

Hier geht es zum dritten und letzten Teil unseres Gesprächs.


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Dr. Benjamin Erhardt ist Familienvater, Unternehmer und Statistiker. BESTFORMING hatte er ursprünglich für sich selbst entwickelt, um gesunde Ernährung und Fitness mit seinem Alltag vereinen zu können. Sein persönliches Lebensziel: Gesund, fit und glücklich 110 Jahre alt werden.

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